Thüringer Archivpreis 2013 für eines der bedeutendsten Musikarchive in Europa - das Lippmann+Rau Musikarchiv in Eisenach

Seit 2011 wird in Thüringen der „Thüringer Archivpreis der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen in Verbindung mit dem Landesverband Thüringen im VdA“ ausgelobt. Für das Jahr 2013 vergab die Jury den mit 5.000 € dotierten Preis an das „Internationale Archiv für Jazz und populäre Musik der Lippmann+Rau Stiftung in Eisenach“, wie der korrekter Name lautet.

Archivare und Musikfans können beide sehr speziell sein und haben auf den ersten Blick eher wenig gemein. Betritt man jedoch die Wohnung eines „echten Fans“ stößt man schnell auf dessen private Sammlung, die er meist stolz präsentiert: Schallplatten, CDs, DVDs, Poster, Presseberichte, Fotos, Biografien der angehimmelten Musiker bis hin zu signierten E-Gitarren und Plektren, die höchste Verehrung genießen, auch wenn sie wohl nie gespielt worden sind. Gern sprechen die stolzen Besitzer von „ihrem Archiv“, mit dessen liebevoll gehegten Dingen sie sich bestens auskennen. Lebendige Archive hätten viel mit Liebe zu tun, bemerkte daher am 21. November 2013 die namhafte Schriftstellerin Eva Demski in ihrer Laudatio auf das „Lippmann+Rau-Musikarchiv“ in Eisenach. Doch der Reihe nach.

Die Ursprünge des Internationalen Archivs für Jazz reichen zurück in eine Zeit, als das Hören von „Westmusik“ noch ein Politikum war und sich deshalb bevorzugt in privaten Nischen abspielte. Formal unterstand die bereits 1959 gegründete „Arbeitsgemeinschaft Jazz Eisenach“ der FDJ-Organisation des „VEB Automobilwerk Eisenach“. Die Jazzbegeisterung in der Wartburgstadt war groß, sogar mit  eigener Zeitschrift „Die Posaune“, gewissermaßen das Sprachrohr aus der ostdeutschen „Motown“. Die enthusiastischen Jazzhörer in Eisenach genossen bald einen gewissen Ruf und wurden darum auch schon einmal selbst abgehört.

Von politischen Zwängen befreit gründeten sie 1999 unter Leitung des Eisenacher Kulturamtsleiters Reinhard Lorenz das „Internationale Jazzarchiv Eisenach“, denn inzwischen waren zu den persönlichen Sammlungen der Vereinsmitglieder hochrangige Zeugnisse hinzugekommen, wie z.B. der Nachlass des deutschen Blues- und Jazzpioniers Günter Boas (1920-1993). Nach weiteren Schenkungen diverser privater Sammlungen nationaler und internationaler Musiker sowie Musikfreunde vergrößerte sich das zunächst auf ehrenamtlicher Grundlage betriebene Archiv rasch. Mit der Übernahme der einmaligen Hinterlassenschaften der renommierten Konzertveranstalter Horst Lippmann (1927-1997), einem gebürtigen Eisenacher, und Fritz Rau (1930-2013), die  gegen alle anfänglichen Widerstände in den 1960er Jahren dem Rock & Pop in Deutschland zum Durchbruch verholfen haben, rückte das Archiv in die Reihe national bedeutender Musikarchive auf.

Mit der Gründung einer Stiftung unter oben genanntem Namen im Jahr 2006 wurde das inzwischen zu internationaler Bedeutung angewachsene Jazzarchiv rechtlich auf ein solides Fundament gestellt. Im Zuge dessen konnte die „Alte Mälzerei“ aus dem  Eigentum der Stadt Eisenach zum Archivgebäude umgebaut und umfassend saniert werden. Inzwischen umfasst das Musikarchiv ca. 60.000 Tonträger, ca. 60.000 Textzeugnisse (Bücher, Musikzeitschriften, Programmhefte, Konzertplakate, Rundfunk-Manuskripte u.v.a.m.) sowie ca. 80.000 Fotos rund um die Themen Jazz, Blues und Popmusik, darunter äußerst seltene Stücke aus den Anfängen dieser das 20. Jahrhundert prägenden musikalischen Bewegungen. Zum Bestand gehören auch Abspielgeräte, bei deren Anblick sich jeder Musikhörer um Jahre jünger fühlt, wie überhaupt ein Besuch dieses großartigen Archivs wie ein Jungbrunnen wirkt.

Die Eisenacher Sammlung gilt heute als eine der umfänglichsten ihrer Art in Europa.  Ein 2009 geschlossener Kooperationsvertrag mit der „Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar“ garantiert die archivfachliche Betreuung und eine intensive musikwissenschaftliche Erforschung der reichhaltigen Bestände, die sich wie ein Who is Who der modernen Musikgeschichte lesen.

Mit ihrer Preisvergabe würdigt die aus allen Archivsparten bestehende Jury des Thüringer Archivpreises das noch relativ junge Lippmann+Rau Musikarchiv insbesondere für seine rasante Entwicklung zu einem modernen Dienstleister mit immer noch hohem Anteil an ehrenamtlichem Engagement, der seine Arbeit zunehmend professionalisierte. Durch das Stiftungsmodell wurde eine tragfähige Lösung gefunden, die das Musikarchiv behördlichen Archiven gleichstellt. Damit erfüllt es die klassischen Aufgaben eines Archivs, allerdings nicht für Archivalien im klassischen Sinne, sondern für einzigartige und seltene Zeugnisse der neueren Musikgeschichte, die sich in Behördenarchiven üblicher Weise kaum finden. Hier wird alles dokumentiert, nur kein „Verwaltungshandeln“.

Entsprechend dem internationalen Charakter seiner Bestände präsentiert das Musikarchiv Lippmann+Rau diese in vorbildlicher Weise im Internet nach internationalen Katalogstandards. Diese mediale Präsentation über einen Online-Katalog (OPAC) macht es zu einer Dokumentationsstätte moderner Musikgeschichte, die weit über Thüringen, ja Deutschland hinaus Beachtung findet und Würdigung verdient. Seinem Sammlungsprofil gemäß wendet es sich nicht nur an Musikwissenschaftler, sondern gleichermaßen an musikbegeisterte Laien, für die rund um das Archiv in einem eigenen Jazzkeller auch Konzerte und Filmvorführungen angeboten werden.

Übergeben wurde der Thüringen Archivpreis 2013 am 21. November 2013, angemessen umrahmt mit live gespieltem Jazz und Swing. Die eingangs erwähnte Schriftstellerin Eva Demski beeindruckte die Gäste mit einer pointierten Laudatio über den Wert lebendiger Archive, den es gegenüber der Gier des Geldes zu verteidigen gelte. Wer klug genug war, noch etwas länger zu bleiben, konnte Lore Boas erleben, die Witwe von Günter Boas, die am Stück Anekdoten über berühmte Musiker erzählte, z.B. über den Bluesmusiker Muddy Waters, der weder lesen noch schreiben konnte, und es mittels Musik dennoch schaffte, „archivwürdig“ zu werden.   

Wegen des guten Echos auf die beiden bisherigen Ausschreibungen mit durchweg qualifizierten Kandidaten hat sich die Sparkassen-Kulturstiftung entschlossen, den Thüringer Archivpreis ab sofort jährlich auszuloben, wofür besonders ihrem Geschäftsführer Herrn Dr. Thomas Wurzel (Frankfurt) zu danken ist, wie überhaupt für die unkomplizierte Zusammenarbeit.